Montag, 19. November 2012

Mein Arbeitsplatz: Sechs Euro die Woche

Magazin Mitbestimmung, Ausgabe 10/2012
Ahmed Basam in der Schreinerei in Gezira El Bairat, Luxor
Ahmed Basam in der Schreinerei (Foto: Gesa von Leesen)

Ahmed Basam, 20, arbeitet in der "Tischlerei von Mohammed" am Westufer des Nils gegenüber von Luxor. Er ist neun Jahre zur Schule gegangen, was in Oberägypten nicht unbedingt der Regel entspricht.
Luxor, Gezirat El Bairat "Ich arbeite jetzt seit einem Jahr hier in der Schreinerei. Vorher habe ich Gemüse und Obst auf dem Markt verkauft. Berufe, in denen man sich die Hände schmutzig macht, sind unter jungen Männern nicht besonders gut angesehen. Viele suchen ihr Glück im Tourismus, der aber seit der Revolution stark zurückgegangen ist. Mir macht diese Arbeit Spaß, weil ich kreativ sein kann. Ich lerne jeden Tag dazu. Große Sachen kann ich noch nicht machen, aber ich kann sägen - mit der Handsäge und an der Maschine. Ich kann auch schleifen, per Hand und elektrisch. Wir bauen Möbel, aber auch Türen und Fenster für neue Häuser. Hier auf der Westbank wird gerade viel gebaut. Zurzeit haben wir einen Auftrag für ein neues Hotel: Fenster und Türen im arabischen Stil.

Zu meinen Aufgaben gehört es, die Werkstatt morgens aufzuschließen, außerdem mache ich sauber. Dann warten meine Kollegen und ich auf den Chef, damit er uns sagt, was wir machen sollen. Wir sind hier zu viert, ein Kollege ist älter als ich, 23, die beiden anderen sind jünger, 17 und 18. Wir kommen gut miteinander aus. Zwei von uns sind Muslime, zwei sind Kopten. Das ist ganz normal. Auch mein Chef ist freundlich zu allen. Wir arbeiten ungefähr von 8.30 Uhr bis 20 Uhr - je nachdem, wie viel Arbeit anfällt. Ich stehe gerne an der Säge. Holz schleppen mag ich nicht, das ist schwer. Und ich fühle mich nicht gut, wenn ich etwas machen soll, was ich noch nicht kann. Dann muss ich fragen.

Zur Arbeit komme ich mit dem Minibus aus einem Nachbardorf, At Tarif, das dauert 15 Minuten. Dort wohne ich bei meinen Eltern, zusammen mit meinen drei Brüdern und zwei Schwestern. Meinen Lohn gebe ich komplett zu Hause ab, denn meine Brüder verdienen weniger als ich. Einer lernt, einer ist beim Militär und einer arbeitet bei Bauern auf dem Feld. In der Woche verdiene ich 50 Pfund, etwa 6 Euro. Das ist in Ordnung, denn ich kann ja noch nicht so viel. Ich bin froh, dass ich hier einen Beruf lerne. Mein Traum ist es, mal alle Möbel bauen zu können, die man in der Wohnung braucht, also Stühle, Tische, Schränke, Betten. Wenn ich so weit bin, will ich meine eigene Werkstatt aufmachen."


Textdokumentation: Gesa von Leesen

»Heute fühle ich mich wie eine 68erin«

Über 60 und noch in Protestlaune - eine neue Generation von »Rentner-Rebellen« übernimmt die Straße.
Neues Deutschland 24.10.2012
Von Gesa von Leesen

In der Werbung nennt man sie gerne »Best Ager«. Gemeint sind die Alten, die Zeit und Geld haben, also eine lohnende Zielgruppe für Reklame sind. Doch zunehmend geht es dieser Gruppe nicht nur ums Reisen oder um standesgemäße Autos. Viel mehr sieht man sie verstärkt auf Demonstrationen. Silberhaarig und fit gehen sie auf die Straße und protestieren gegen Atomtransporte in Niedersachsen, Fluglärm, den Stuttgarter Tiefbahnhof.

Montag, 17.25 Uhr auf dem S-Bahnsteig in Oberesslingen. Fünf Minuten bevor die Bahn nach Stuttgart abfährt, stiefeln fünf ältere Herrschaften die Treppe hinauf. Alle tragen Sticker gegen Stuttgart 21 an den Anoraks. Hanna Maier-Gschwind mit Gatte Helmut Maier, das Ehepaar Brunhilde und Otto Werner und Hellfried Sandig sind zwischen 63 und 80 Jahre alt. Wenn irgend möglich, treffen sie sich jeden Montag, um gemeinsam zur Montagsdemo gegen S21 zu fahren.

Die beiden Ehepaare wohnen in Aichwald, einem wenige Kilometer entfernten Dorf, Sandig kommt aus Esslingen. Bis Stuttgart benötigt die S-Bahn 20 Minuten. Auch wenn die fünf also gar nicht direkt von dem Milliardenprojekt betroffen sind - den geplanten Tiefbahnhof halten alle für mehr als unsinnig. Überflüssig, zu teuer und gefährlich finden sie ihn. Außerdem zeige sich an dem Projekt, »wie die Politik die Menschen belügt, um ihre Ziele durchzubringen«, so Hanna Maier-Gschwind, mit 63 die Jüngste der Truppe. »Ich habe mich schon immer für eine gerechte Weltordnung eingesetzt und bei Stuttgart 21 sehe ich die Demokratie in Gefahr«, erklärt die pensionierte Lehrerin. »Beim Kosovo-Krieg bin ich aus der SPD ausgetreten. Mein Mann hat die Partei dann im vorigen Jahr verlassen, weil die SPD für Stuttgart 21 ist.«

Inzwischen ist die S-Bahn auf dem Weg gen Stuttgart und die fünf berichten, warum sie die Mühe auf sich nehmen, jede Woche zu demonstrieren. Haben sie denn keinen Garten, keine Enkel? Brunhilde Werner (72) lacht. »Doch, die besuchen wir auch. Meine Tochter wohnt in Zürich. Wenn ich da hinfahre, bin ich immer ganz begeistert von dem tollen Kopfbahnhof.« Und der frühere Lichttechniker Helfried Sandig (73) erzählt: »Meine Kinder wohnen in Hamburg und Berlin. Die stehen auch kritisch zur Bahn und unterstützen mich in meinem Protest.«

Otto Werner (80) findet es richtig, sich im Alter zu engagieren. »Wir haben doch Zeit, sind unabhängiger als früher mit Arbeit und Kindern. Ich sehe das so: Wir demonstrieren stellvertretend für diejenigen, die auch gegen Stuttgart 21 sind, aber keine Zeit haben.«

Rainer Böhme von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen meint, dass sich derzeit eine neue Generation von »Rentner-Rebellen« entwickele. »In diesen Jahren geht eine Generation in Rente, die sich nicht in Schrebergärten und Seniorenheime zurückzieht«, sagt der Co-Autor des Buches »Die Altersrevolution« in einem Interview. Heutige Rentner wollten selbstbestimmt leben, seien selbstbewusst und ließen sich von staatlichen Autoritäten nicht beeindrucken.

Die jetzigen »Rentner-Rebellen« sind keine Protestneulinge. Sie knüpfen an frühere Aktivitäten an, wurden in den 60er und 80er Jahren politisiert. So auch die S 21-Truppe. Sie haben gegen die Pershings demonstriert, waren in der Friedensbewegung aktiv oder kommen aus kirchlichen Initiativen. Sich zu engagieren, ist für sie selbstverständlich. »Allerdings bin ich früher keine 68erin gewesen«, sagt Hanna Maier-Gschwend nachdenklich und lächelt dann. »Ich fühle mich erst heute wie eine 68erin.«

So wie den Fünfen ergeht es vielen älteren Menschen. In Berlin-Pankow hatten Seniorinnen und Senioren monatelang eine Begegnungsstätte besetzt, um gegen die geplante Schließung zu kämpfen. Mit Erfolg. In der vorigen Woche entschied die Bezirksverordnetenversammlung, den Treffpunkt zu erhalten. Bei den Berliner Protesten gegen Fluglärm identifizierte das Göttinger Institut für Demokratieforschung jeden fünften Demonstranten als Rentner und in Spanien besetzten im Sommer Rentner das deutsche Konsulat, um gegen die EU-Sparpolitik zu protestieren.

Auch wenn der Kampf mühsam ist - die fünf S 21-Gegner wollen dabei bleiben, wenn die Gesundheit mitspielt. Weil es um die Sache geht und auch weil der Protest Freude macht. »Jedes Mal, wenn ich auf der Montagsdemo gewesen bin, fühle ich wieder neuen Elan. Das Gruppenerlebnis gibt so einen richtigen Energieschub«, sagt Hanna Maier-Gschwend, ihre Augen blitzen. Hellfried Sandig stimmt zu und ergänzt: »Da haben sich über die vergangenen zwei, drei Jahre auch viele Freundschaften entwickelt.« Inzwischen ist die Gruppe auf dem Rathausplatz in Stuttgart eingetroffen. Auch zu dieser 144. Montagsdemo sind 2000 Menschen gekommen, um ihren Unmut über den Tiefbahnhof kund zu tun. Zielstrebig gehen die fünf bis kurz vor die Bühne. »Da ist unser Treffpunkt«, sagt Hanna Maier-Gschwend und schon kommt eine ältere Dame auf sie zu, um sie zu umarmen. »Schön, dass du auch wieder da bist.«

Samstag, 25. Februar 2012

Putzmeister in Kommunistenhand

Kontext:Wochenzeitung, 08. Februar 2012

Von Gesa von Leesen
Der Deal erregt bundesweites Aufsehen. Der chinesische Sany-Konzern hat den Baumaschinenhersteller Putzmeister in Aichtal für etwa 360 Millionen Euro erworben. Der Kauf eines gesunden Technologieführers in dieser Größenordnung in Deutschland durch chinesische Investoren ist neu. Das Familienunternehmen Putzmeister gehört nun dem reichsten Mann Chinas, Liang Wengen, der nach Zeitungsberichten im Herbst ins Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas aufrücken soll. Während Käufer und Verkäufer ihr Geschäft feiern, fürchten die Arbeiter in Aichtal um ihre Jobs.

"In der Zeitung zu lesen, dass man verkauft worden ist – das ist demütigend." Die Wut steht der Putzmeister-Mitarbeiterin ins Gesicht geschrieben. Eigentlich ist die 900-köpfige Belegschaft stolz auf ihre Produkte. Bekannt sind vor allem die riesigen Putzmeister-Betonpumpen, die nicht nur für Wolkenkratzerbauten, sondern vor einem knappen Jahr auch zur Kühlung der Atomruine in Fukushima eingesetzt wurden. Doch nun herrscht in Aichtal Enttäuschung vor. Denn bis der Verkauf in der Zeitung stand, wusste niemand etwas von den Plänen. Weder Betriebsrat noch die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat noch die IG Metall Esslingen, die daraufhin die Belegschaft kurzfristig zu einer Versammlung vor dem Betriebstor zusammentrommelte.

"Dieser Stil ist eine Frechheit", erklärte Gerhard Schamber, Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats. "Das lassen wir uns nicht gefallen." Für IG-Metall-Chef Sieghard Bender zeugt der überraschende Verkauf "von mangelndem Anstand im Umgang mit der Belegschaft". Schützenhilfe bekommt er vom Unternehmensrechtler Sebastian Sick der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. "Laut Betriebsverfassungsgesetz muss der Betriebsrat von einer solchen Veränderung vorab informiert werden", erklärt er. "So etwas aus der Zeitung zu erfahren ist nicht gesetzeskonform."

Vielleicht hilft das beim Kampf von Betriebsrat und Gewerkschaft für einen Tarifvertrag zur Beschäftigungs- und Standortsicherung. "Kann ja sein, dass erst mal alles beim Alten bleibt, so wie die Geschäftsleitung es ankündigt", meint Sieghard Bender. "Kann aber auch nicht sein. Wir wollen uns wappnen." Norbert Scheuch versteht die Sorge um die Arbeitsplätze, sagt er. "Aber sie ist nicht berechtigt." Der Geschäftsführer von Putzmeister rückt nun in den Vorstand des Sany-Konzerns auf und wird künftig für das gesamte Betongeschäft außerhalb Chinas verantwortlich sein.

50 Millionen für eine Arbeitnehmerstiftung?

Den Forderungskatalog der Gewerkschaft hat Scheuch inzwischen erhalten. Die will Tarifverträge zur Standort- und Beschäftigungssicherung bis 2020, Erweiterung der betrieblichen Mitbestimmung und 50 Millionen Euro vom Verkaufserlös für eine Arbeitnehmerstiftung. Metaller Bender grinst. Er weiß, dass die letzte Forderung ungewöhnlich ist. "Aber warum soll nur der alte Eigentümer und nicht auch die Belegschaft vom Verkauf profitieren?", fragt er. Zumal Altbesitzer Karl Schlecht von Stiftungen so viel halte.

Bender spielt auf die gemeinnützige Karl-Schlecht-Stiftung und die nicht gemeinnützige Karl-Schlecht-Familienstiftung an. Erstere fördert unter anderem zwei Lehrstühle sowie die Weltethos-Stiftung des katholischen Theologen Hans Küng in Tübingen. Die Familienstiftung verfügte über 90 Prozent der Stimmrechte der Holding und nahm so Einfluss auf den unternehmerischen Kurs. Stiftungszweck ist dabei laut Satzung "die Unterstützung des Stifters" und dessen Angehöriger. Die nun erlösten mehrere hundert Millionen Euro fließen laut Pressemitteilung komplett in die beiden Stiftungen.

"Management by Love"

Ein Zweck von Unternehmen im Stiftungsgewand ist häufig, die Gefahr auszuschalten, dass die Firma durch Nachkommen zerschlagen wird. Die Nachfolgefrage dürfte auch beim Putzmeister-Verkauf eine Rolle gespielt haben. Zwar hat Karl Schlecht mehrere Kinder, doch die waren offenbar entweder nicht interessiert, oder sie haben das Unternehmen nach einigen Jahren Mitarbeit wieder verlassen. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass der Firmengründer Karl Schlecht nicht nur unbestreitbar erfolgreich war, sondern zunehmend als "unberechenbar" galt, wie Betriebsrat Schamber es formuliert. So belehrte Schlecht seine Mitarbeiter gerne in "Personalmitteilungen" über die zehn biblischen Gebote, Gandhi-Lehren, "Management by Love" und Rotary-Grundsätze.

Angesichts der Nachfolgefrage sei der Verkauf "ein kluger Schritt" von Karl Schlecht gewesen, meint Geschäftsführer Scheuch. Dass der rechtzeitig diese Lösung gefunden habe, nötige ihm Respekt ab: "Hut ab!" Strategisch passten die beiden Firmen gut zueinander, sagt Scheuch. Die Deutschen bekommen einen starken Partner und können Produkte "made in Germany" auch in China an den Mann bringen. Die Chinesen erhalten Zutritt zum europäischen, amerikanischen, indischen, arabischen Markt. Im Bereich Betonpumpen ist Sany nun nach eigenen Angaben der weltweit führende Anbieter geworden. "Putzmeister hat das beste Vertriebs- und Servicesystem", weiß Gewerkschafter Bender. "Und die Kunden legen Wert auf die hohe Qualität der Putzmeister-Produkte, die nicht wie viele chinesische Produkte nur eine Baustelle lang durchhalten."

Strategisch hält auch er den Verkauf für eine "logische und eventuell gute Entscheidung". Industriepolitisch allerdings sieht er Probleme für andere einheimische mittelständische Baumaschinenfirmen: "Ob die sich gegen einen solchen mächtigen Konzern am Markt halten können?" Und er hofft, "dass der Sany-Aufkauf kein Dammbruch bedeutet für die eigenständigen, familiengeführten Industriebetriebe in unserer Region". Nicht nur wegen der anstehenden Nachfolgefrage, sondern auch "wegen der oft auftretenden Finanzierungsprobleme der Mittelständler".

Der Geschäftsführer der Wirtschaftsförderung der Region Stuttgart, Walter Rogg, findet es ebenfalls generell besser, "wenn schwäbische Mittelständler schwäbische Mittelständler bleiben. Denn diese verfügen in der Regel über eine höhere Identifikation mit dem Standort und über eine höhere Standorttreue. Damit sind wir als Wirtschaftsraum auf der sicheren Seite." Den Putzmeister-Verkauf will er damit allerdings nicht bewerten. Wenn ausländische Investoren Interesse an hiesigen Firmen haben, sei das auch "ein Zeichen für ihre Qualität und für die Qualität des Wirtschaftstandorts", meint Rogg. Viel Erfahrung mit chinesischen Investoren habe die Wirtschaftsförderung nicht, denn die seien "in der Region noch kein Massenphänomen".

Es gibt gute und schlechte Erfahrungen mit chinesischen Investoren. So hat 2004 das chinesische Unternehmen Bejing Number One den Werkzeugmaschinenhersteller Waldrich Coburg gekauft. Bis heute läuft der Betrieb gut und wächst. Bei AEG Electric Tools in Winnenden, das seit 2004 dem chinesischen Unternehmen Techtronic Industries gehört, wurde im vorigen Jahr verkündet, etwa 300 Stellen aus Montage, Produktion und Forschung würden ins Ausland verlagert. "Also müssen wir jetzt handeln", unterstreicht Putzmeister-Betriebsrat Schamber. "Damit es später kein böses Erwachen gibt."

Gewerkschaft will Teil vom Verkaufserlös

In der Belegschaft glaubt nicht jeder der Geschäftsführung, wenn die versichert, die Marke und die weltweit 3000 Arbeitsplätze bei Putzmeister blieben langfristig erhalten. Viele erinnern sich noch an die Krisenjahre 2008 und 2009. Damals rutschte Putzmeister tief in die roten Zahlen und wollte 580 Arbeitsplätze in Aichtal streichen. Durch Kurzarbeit und Verzicht aufs Weihnachtsgeld konnten die Entlassungen auf 70 gedrückt werden. Im vorigen Jahr machte das Unternehmen wieder Gewinn. Auch deswegen will Gewerkschafter Bender die Beschäftigungssicherung und einen Anteil vom Verkaufserlös: "Die Belegschaft hat den Betrieb gerettet. Karl Schlecht hat damals kein Privatgeld in die Firma gegeben – im Gegensatz zu vielen anderen Familien, deren Unternehmen durch die Weltwirtschaftskrise gebeutelt waren."

Über die Tarifverträge zur Sicherung der Beschäftigung und der Standorte will Putzmeister-Geschäftsführer Scheuch nach anfänglichem Zögern inzwischen verhandeln. Bis 2020 ist ihm allerdings zu lang. "Da müssen wir eine Lösung finden, die der Firma noch genug Luft zum Atmen lässt." Exeigentümer Karl Schlecht hält die Forderungen der IG Metall für "reine Dummheit". Arbeitsplatzgarantien gebe es nicht, erklärt der 79-Jährige, der dieser Tage aus China zurückgekehrt ist. Einen Anteil vom Verkaufserlös abzugeben, lehnt er ab. Schlecht: "Die Firma gehörte nicht mir, sondern der Stiftung." Er betont, der Verkauf sei "ein Sieg des Vertrauens" gewesen. Sany habe sogar auf eine Due Diligence verzichtet, also auf die gründliche Prüfung und Analyse von Putzmeister. "Trotzdem haben wir von Sany das Doppelte bekommen, was wohl ein normaler westlicher Interessent bezahlt hätte", berichtet Schlecht.

Einfluss auf Putzmeister werde er möglichst nicht nehmen, auch wenn Sany-Chef Liang Wengen ihn "zum lebenslangen Oberberater von Sany" ernannt habe, so Schlecht, und er unterstreicht: "Eine Vergütung dafür habe ich abgelehnt." Mit Liang Wengen verbinde ihn Freundschaft, sagt der Maschinenbau-Ingenieur, denn man teile die gleichen Werte.

Der reichste Mann Chinas

Mag sein oder auch nicht. Auf jeden Fall ist Sany-Chef Liang Wengen ein interessanter Mann. Er hat als Anbieter von Schweißdraht begonnen, heute zählt Sany 70 000 Mitarbeiter in 150 Ländern, der Umsatz lag zuletzt bei fünf Milliarden Euro. Laut "Forbes" und dem chinesischen "Hurun"-Report ist der 55-Jährige mit sieben Milliarden Euro Privatvermögen der reichste Mann Chinas. Zeitungen haben gemeldet, dass Liang als Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas auf dem Parteitag im Herbst ins Zentralkomitee aufrücken wird. Erstmals wäre damit ein Privatunternehmer in der Schaltzentrale der Macht angelangt. Liang steht symbolisch für das heutige China: kapitalistisches Wirtschaften unter Anerkennung der führenden Macht der Partei. Die will das 1,3 Milliarden Einwohner zählende Land zu einer wirtschaftlichen Weltmacht aufbauen. Langfristige Entwicklungen im Auge, kauft China Grund und Boden für Nahrungsmittelanbau, sichert sich gezielt Rohstoffe und weiß, welche Hochtechnologien es benötigt. In puncto Maschinenbau ist Deutschland da hochinteressant für China.

https://www.kontextwochenzeitung.de/newsartikel/2012/02/putzmeister-in-kommunistenhand/

Doppelhaushalt animiert zu 119 Anträgen

Eßlinger Zeitung, 08. Februar 2012

FILDERSTADT: Investitionen in die Kinderbetreuung stimmen alle Fraktion zu – Unterschiedliche Meinungen zu Steuererhöhungen

Der erste Filderstädter Doppelhaushalt hat die Fraktionen im Gemeinderat zu besonders vielen Anträgen animiert. 119 sind es, verpackt in jeweils etwa 15-minütigen Reden pro Fraktion, in denen alle die Großinvestitionen in die Kleinkindbetreuung begrüßten. Debattiert und abgestimmt werden die Anträge nun in diversen Ausschüssen. Verabschiedet wird der Doppelhaushalt für 2012/2013 am 19. März.

Von Gesa von Leesen
Für die Freien Wähler bekannte sich Stefan Hermann zur Nullverschuldung und lehnte „weitere Steuerbelastungen“ ab. Angesichts des Haushaltsdefizits - 92,4 Millionen Euro Einnahmen stehen 94,4 Millionen Euro Ausgaben gegenüber - möchte die Fraktion das Gewerbe stärker fördern und beantragte jährlich 50 000 Euro, damit sich Filderstadt auf Verbrauchermessen präsentieren kann. Mit 90 000 Euro zusätzlich sollen Spielplätze aufgewertet werden, mit 80 000 Euro die Spielbereiche der Kindertagesstätten. Für ein „nachhaltiges Mobilitätskonzept“ wollen die Freien Wähler 50 000 Euro. Sie stellten 28 Anträge.Walter Bauer (SPD) schaffte in seiner Redezeit gerade mal die Hälfte seines Manuskripts. Er führte aus, dass zum Haushaltsdefizit auch die erhöhte der Kreisumlage beitrage. Da dies im Kreistag von Freien Wählern, CDU und Grünen beschlossen wurde, wandte er sich an deren Kreisräte: „Da kommt ihr nicht ungeschoren davon: Im Kreis Wohltaten verteilen und daheim in Filderstadt auf die Tränendrüse drücken.“ Dafür gab es Lacher. Die SPD stellte 35 Anträge. Sie will jährlich 250 000 Euro für den Ankauf von Wohnraum in den Haushalt einstellen, 100 000 Euro für das Bonländer Zentrum und 40 000 Euro für die Sanierung der Filderbühne im Weilerhau. Mit 27 Anträgen kamen die Grünen/FFL auf den dritten Platz.

Grundsteuer erhöhen

Catherine Kalarrytou lobte ausführlich die grün-rote Landesregierung und betonte, die Grünen in Filderstadt wollten keine Schulden aufnehmen. Gerne sähe sie, wie die SPD, dass die Grundsteuer erhöht würde. Einen Antrag stellte aber auch sie nicht. Sie machte viele Sparvorschläge: Haushaltssperre für Investitionen im Fildorado sowie für ein Kunstwerk auf einem Kreisverkehr und Verzicht auf einen Kreisel an der Nürtinger-/Neuhäuser Straße. In der Mehrzahl fordern die Grünen Konzepte von der Stadtverwaltung, zum Beispiel für eine städtische Wohnbaugesellschaft und die Beteiligung „qualifizierter“ Bürger mit Migrationshintergrund für die Verwaltung.

Christoph Traub befand für die CDU, Filderstadt sei ein „aktiver Lebensraum mit Ausstrahlung“. Er beschränkte sich auf elf Anträge. Ein Teil des Erlöses aus dem Grundstücksverkauf an Hugo Boss solle in neue Gewerbeflächen investiert werden. Zudem möchte die CDU die 45 000 Euro für die Fortschreibung des Stadtentwicklungskonzepts streichen. Dem schloss sich die FDP an. Jörg Platten erläuterte, dass sie sich bei angespannter Haushaltslage Krediten nicht verschließe, falls die Gefahr bestehe, „durch eine zu enge Finanzlage wichtige Investitionen verschieben zu müssen“. Zu den sieben Anträgen der FDP gehören 200 000 Euro für den Ortskern von Bonlanden und 100 000 Euro in die Umgestaltung der Bahnhof/-Reutlinger Straße. Der fraktionslose Stadtrat Erhard Alber stellte in seiner nur ausgeteilten Haushaltsrede einen Antrag: Erhöhung der Grundsteuer. Als Stadtrat müsse man „auch den Mut aufbringen, unpopuläre Entscheidungen zu treffen“.

Alle Fraktionen forderten, für die Lärmdämmung in der Seefällehalle 100 000 Euro bereitzustellen. Auf die verzichtete man bei der Sanierung, weshalb Lehrer und Schüler sich im Sportunterricht kaum mehr verständigen können. Freie Wähler, SPD und Grüne unterstützten den Ausbau des schnellen Internets in Harthausen und Sielmingen.

Mittwoch, 10. November 2010

Im Reich der Achatschnecke

Eßlinger Zeitung, 05. November 2010

Leinfelden-Echterdingen: Neue Info-Tafeln erklären das Naturschutzgebiet Siebenmühlental

Gleich zwei Regierungspräsidenten sind gestern in Siebenmühlentag gefahren, um die neuen Informationstafeln für das neu ausgewiesene Naturschutzgebiet zu enthüllen. Stuttgarts Regierungspräsident Johannes Schmalzl und sein Tübinger Amtskollege Hermann Strampfer betonten, wie wichtig es angesichts des fortschreitenden Artensterbens es sei, Pflanzen und Tieren Rückzugsräume zu sichern. Der Mensch dürfe dabei aber nicht ausgeschlossen werden, hieß es.

Von Gesa von Leesen
Bis die beiden Regierungspräsidenten die Verordnung, die das Siebenmühlental zum Naturschutzgebiet erklärt, unterzeichnen konnten, gingen 15 Jahre ins Land. Die ursprüngliche Idee dazu kam vom Naturschutzbund Leinfelden-Echterdingen. Dessen Vertreter Rolf Gastel sagte, man sei stolz auf diesen Erfolg. Er kritisierte aber auch, dass zu wenig Geld für den Naturschutz zur Verfügung stehe.
In den 15 Jahren Verhandlungen und Abstimmungen mit den beteiligten Kommunen und Landwirten habe man die unterschiedlichen Interessen letztlich gut zusammengeführt, meinte Schmalzl. Er betonte, die Tal werde nicht wegen akuter Fehlentwicklungen unter Schutz gestellt, sondern vorausschauend: „So können wir eventuelle Begehrlichkeiten in der Zukunft abwehren.“ Das Naturschutzgebiet umfasst 100 Hektar und ist damit eines der größten im Raum Stuttgart. Hier gibt es mehr als 200 Pflanzenarten, 80 Vogelarten, 14 Amphibien und Reptilienarten sowie 50 Tag- und Nachtfalter. Der Eisvogel und der Neuntäter sind hier ebenso zu finden wie die Trollblume und das Breitblättriges Knabenkraut. Strampfer wies auf den Wert von solch einigermaßen intakten Gebieten auch für die Erholung hin: „Wollte man ein solches Gebiet aus dem Boden stampfen, würde das hunderte von Millionen Euro kosten.“
Der erste Bürgermeister von Leinfelden-Echterdingen Frank Otte freute sich ebenfalls über das Naturschutzgebiet: „Wir sind stolz darauf.“ Und auch wenn nicht alle mit den gefundenen Kompromissen zufrieden seien, denke er, dass die Akzeptanz mit der Zeit steigen werde. Dass es soweit noch nicht ist, zeigte die spontane Kritik des ansässigen Bauers Hans-Jörg Stäbler. Er beklagte, dass die Landwirtschaft nichts einbrächte, Ausgleichszahlungen für Naturschutz-Maßnahmen aber auch nicht.
Die fünf Informationstafeln, die 25.000 Euro gekostet haben, wurden schließlich auch noch enthüllt und Reinhard Wolf vom Regierungspräsidium Stuttgart erklärte, man wolle damit den Blick der zahlreichen Spaziergänger und Sportler im Tal auf die Kleinigkeiten in der Natur hinweisen: „Wer weiß schon, wie die glänzende Achatschnecke aussieht?“

„Jetzt habe ich ein komplettes Bild von der Arbeit“

Eßlinger Zeitung, 01. November 2010

OSTFILDERN-RUIT: Krankenpflege-Schülerinnen leiten eine Woche lang die Orthopädiestation

Nervös seien sie vorher alle gewesen, gesteht Marie Tröndle. „Aber wir haben uns in der Klasse ja gut vorbereitet, das hat viele Sorgen genommen. Und jetzt klappt es richtig gut.“ Die 26-Jährige ist eine von 22 angehenden Gesundheits- und Krankenpflegerinnen – früher Krankenschwester –, die in der vergangenen Woche ziemlich selbstständig eine Station im Paracelsus-Krankenhaus Ruit geleitet haben. Mit sichtlichem Spaß und Engagement haben sie ihre Aufgabe bewältigt.

Von Gesa von Leesen
Kurz vor Ende der Woche sind die jungen Frauen zwischen 20 und 30 Jahren und der eine junge Mann stolz auf die abgelieferte Leistung. Zum zweiten Mal hat sich die Krankenpflegeschule auf dieses Experiment eingelassen. „Im vorigen Jahr war das Ergebnis sehr positiv“, berichtet Fachlehrerin Esther Moosmann. „Die Schüler strengen sich enorm an, deutlich stehen die Patienten im Mittelpunkt und so soll es ja auch sein.“ Sie und Schulleiter Thomas Ruf halten diese Projektwoche „Just do it!“ für eine gute Vorbereitung aufs Examen. Und natürlich auf die Arbeit als examinierte Pflegekraft. Zur Vorbereitung hatte die Abschlussklasse sich in Arbeitsgruppen aufgeteilt: Es wurden Dienstpläne erstellt, mit dem Pflegepersonal der Station besprochen, wie der Tagesablauf aussieht. Gemeinsam übte man noch einmal, verschiedene Verbände anzulegen und Katheter zu verabreichen. „Nicht nur die Klasse ist engagiert dabei, auch die examinierten Kräfte, die Ärzte – alle hier im Haus“, so Ruf. „So etwas funktioniert auch nur, wenn man gemeinsam an einem Strang zieht.“
Zwar würden sie auch während ihrer Ausbildung ständig im praktischen Einsatz sein, berichtet Kerstin Maier, die von ihren Mitschülerinnen zur stellvertretenden Stationsleiterin gewählt worden ist, aber so richtig seien sie erst jetzt in die Arbeit hineingekommen. Sie und Marie Tröndle sind sich einig: Das Beeindruckendste an der Woche sei die Verantwortung gewesen. „Man kann abends nicht so schnell abschalten, sondern überlegt: Habe ich an alles gedacht“, beschreibt Kerstin Maier ihre Seelenlage. „Als Schülerin fragt man schnell eine Examinierte“, sagt Tröndle. „Jetzt wollten wir das ja vermeiden und selbst die richtigen Entscheidungen treffen.“ Selbstverständlich standen Mitglieder der „echten“ Belegschaft jederzeit bereit, Hilfe zu leisten. „Und am Anfang ist es mir ziemlich schwer gefallen, nicht einzugreifen“, sagt Schwester Ute, die sonst die Stationsleitung innehat. Doch es habe keinerlei schwerwiegende Zwischenfälle gegeben, bei denen die Examinierten hätten eingreifen müssen. „Die Schülerinnen haben das richtig gut gemeistert.“
Auch die Patienten freuten sich über die neuen Gesichter auf der Orthopädie- und Unfallstation. „Die machen das gut“, so das Fazit von Ömer Subas, der mit einer Knieprothese im Krankenhaus liegt. Weil mit dem Schülerprojekt mehr Pflegepersonal als normalerweise auf Station war, blieb für die Patienten mehr Zeit übrig. Marie Tröndle hat das genossen. „Und ich habe jetzt viel besser begriffen, warum die Abläufe sind wie sie sind. Sonst bekommt man immer nur einen Ausschnitt mit, nun habe ich ein komplettes Bild.“

Mit Stuttgart 21 die Wahl gewinnen

Eßlinger Zeitung 17.Oktober 2010
Plochingen: CDU-Kreisparteitag verzichtet auf Debatten und stellt sich hinter das Bahnprojekt

Das Thema Stuttgart 21 schweißt die CDU offensichtlich zusammen. Das war deutlich zu spüren beim Kreisparteitag am Freitagabend in Plochingen. 233 Mitglieder waren gekommen, auffällig mehr als sonst, stellte Versammlungsleiter Markus Grübel fest. Ein knappes halbes Jahr vor der Landtagwahl deuten Umfragen auf ein historisch schlechtes Abschneiden der Christdemokraten in Baden-Württemberg hin. Das mobilisiert. Mit einer betont kämpferischen Rede für Stuttgart 21 schwor Staatssekretär Dietrich Birk seine Parteifreunde auf den Wahlkampf ein.

Von Gesa von Leesen

Seit 1953 Jahren stellt die CDU den Ministerpräsidenten, das müsse auch so bleiben, beschwor der stellvertretende Landesvorsitzende seine Parteifreunde. Birks Rede war ausschließlich Stuttgart 21 und der Neubaustrecke Wendlingen - Ulm gewidmet. Beides sei für Baden-Württemberg „herausragend wichtig“. Alle Parlamente hätten mit großer Mehrheit dafür gestimmt. Den Bahnstreckenbau durch das Filstal im 19. Jahrhundert habe der damalige König auch gegen Widerstände durchsetzen müssen, führte Birk aus.
Dass nach 15 Jahren Diskussion und Planung „jetzt die Gegner aus allen Löchern kommen und das Projekt kippen“ wollen, dürfe nicht passieren. Birk warf den Stuttgart-21-Gegnern vor, die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Frage zu stellen. Die Forderung der SPD nach einem Volkentscheid lehnte der 43-Jährige ab. Das sei weder rechtlich noch politisch machbar. Auch die Grünen, die laut jüngster Umfrage im Auftrag des Spiegels mit 32 Prozent nur 2 Prozent hinter der CDU liegen, bekamen ihr Fett weg. Sie würden sich „einseitig auf die Seite der Demonstranten schlagen“, das sei „keine verantwortungsvolle Haltung“, befand Birk. „Dieses Land darf unter keinen Umständen rot-grünen Spielereien überlassen werden. Nur die CDU garantiert Stabilität.“ Applaus. Birk räumte ein, dass die Stuttgart-21-Befürworter zu lange gewartet hätten, bis sie sich offensiv für das Milliardenprojekt eingesetzt habe. Doch nun sei man aufgewacht. Zur Motivation hatte die Parteitagsregie auf jeden Platz einen „Für S21“-Sticker gelegt, der mehr oder weniger eifrig ans Revers gesteckt wurde. Birk gab sich überzeugt, dass die Christdemokraten es schaffen werden, bis zur Wahl am 27. März die Menschen zu überzeugen und dass „wir wieder drei Landtagsabgeordnete stellen und die Regierung mit Stefan Mappus“. Eine entsprechend Resolution für Stuttgart 21 verabschiedete der Parteitag mit zwei Gegenstimmen und ohne Diskussion.
Ebenso glatt verlief die Beratung der zwei Anträge. Ohne Debatte beschloss man, die Mitgliederzeitschrift der Jungen Union finanziell zu unterstützen. Der Antrag des Gemeindeverbandes Deizisau, unter Ausschluss der Öffentlichkeit die aktuelle Situation und das Erscheinungsbild der CDU zu diskutieren, ging ebenso glatt über die Bühne. Die Wahl zum neuen Kreisvorstand brachte keine Überraschung. Der neue ist der alte: Thaddäus Kunzmann wurde als Vorsitzender mit 181 von 224 Stimmen bestätigt. Auch seine Stellvertreter bleiben Ulrich Bauer und Volker Haug.

Montag, 21. Juni 2010

„All diese Räume für eine Person?“

Eßlinger Zeitung 22. Juni 2010

Esslingen: Frauen aus Kenia besuchen mit Landfrauen kleine Bauernhöfe

„Erstaunt war mein Team darüber, dass es hier so viele alte Menschen gibt. Bei uns sterben die Leute früh.“ Perez Odera lächelt bedauernd. Die 60-jährige Kenianerin war eine Woche lang mit vier Landsfrauen in der Region unterwegs. Der Besuch galt dem Landfrauenverband Württemberg-Baden. Gemeinsam besuchten die Damen Brot für die Welt, die Aids-Hilfe Stuttgart, kleine Bauernhöfe, Pflegeeinrichtungen und zum Schluss auch Esslingen.

Von Gesa von Leesen

Die fünf Kenianerinnen arbeiten alle in Anti-Aids-Projekten. In dem 39-Millionen-Einwohner-Land sind nach Angaben von UNAids zwischen sieben und acht Prozent der Erwachsenen HIV-positiv. Odera ist die Chefin der Nicht-Regierungs-Organisation CISS (Community Integrated Support Service), die sich um Prävention bemüht und Erkrankten Mut machen will. „Wir ermuntern die Menschen, sich testen zu lassen. Und wenn sie tatsächlich infiziert sind, beraten wir sie in punkto ärztlicher Versorgung“, erklärt sie. Zudem gebe es Aufklärungskampagnen und sie versuchten, den Kranken zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen. „Denn viele geben sich auf, wenn sie erfahren, dass sie positiv sind. Viele begehen auch Selbstmord.“
Den Kontakt zu den baden-württembergischen Landfrauen gibt es seit fünf Jahren. Damals besuchte eine Landfrauen-Delegation die Frauen in Kenia. Die Esslinger Kreisvorsitzende Anne Marie Schuster erinnert sich noch gut daran: „Beeindruckend war die Freude darüber, dass wir sie, die Frauen, in den Dörfern besucht haben, und nicht die Männer.“ In einem anschließenden Projekt sammelten die Baden-Württembergerinnen rund 50.000 Euro für CISS-Projekte. Odera berichtet, dass man davon Ziegen für kranke Frauen gekauft hat: „Die Milch ist besonders gut für sie.“ Nun kam also der Gegenbesuch, für den ganz bewusst kleine Höfe mit Ziegen-, Kuh- und Hühnerhaltung ausgesucht worden waren. Schuster: „Diese Tiere werden auch in Kenia gehalten und die Frauen sollen ja vergleichen können.“ Und kleine Höfe habe man auch deswegen genommen, „um zu zeigen, dass auch in Deutschland nicht alles riesig und glänzend ist“.
Doch auch kleine schwäbische Höfe sind für Kenianerinnen groß, erzählt Odera. „Wir haben vielleicht einen Hektar Boden, hier sind die Flächen immer groß. Die Art, das Land zu bestellen, ist ganz anders. All die Gerätschaften und Maschinen …“ Ihre Mitreisenden seien zudem tief beeindruckt vom allgemeinen Lebensstandard gewesen: „Hier ein Zimmer, da ein Zimmer, noch ein Zimmer – und das alles für eine Person!“ Bei ihnen zu Hause gebe es zwar auch Reiche, aber „die meisten sind arm“.
Eine Erfahrung aus dem Besuch will Odera in der Heimat anwenden: „Landwirte hier haben nicht nur Kühe oder nur Getreide. Der Betrieb ist breit aufgestellt. Das wäre auch für unsere Leute wichtig. Wir haben immer nur ein Standbein, wenn da was schief geht, ist gleich alles aus dem Gleichgewicht.“
Wie die Landfrauen nach Abreise der kenianischen Kolleginnen diese weiter unterstützen wird, weiß Schuster noch nicht: „Das müssen wir im Präsidium besprechen.“ Denn um Geld für Hilfen aufzutreiben, brauche es noch Ideen. „Das letzte Mal haben wir das mit Vorträgen über unseren Besuch in Kenia eingenommen. Nun müssen wir uns etwas Neues überlegen.“
Perez Odera und ihre CISS-Kollegin Herine Kawaka werden noch eine Zeitlang in Deutschland bleiben, denn beide haben hier lebende Töchter. Die anderen drei Kenianerinnen treten morgen (Dienstag) ihre Heimreise an. Bis dahin wollen sie noch mal durch die Stuttgarter Innenstadt bummeln und Souvenirs einkaufen. Was genau weiß Odera noch nicht: „Etwas typisch Deutsches. Vielleicht das Modell einer Kirche. Ihr habt so viele schöne Kirchen.“

Turbinen für die Wasserkraft

Eßlinger Zeitung 9. Juni 2010

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Ein großer Kran transportiert die Turbine fürs Wasserkraftwerk in die vorgesehene Öffnung.



Esslingen: Kraftwerk auf dem Hechtkopf nimmt Formen an

Punkt neun Uhr treffen die Radlader aus Ungarn mit den beiden Riesenturbinen ein. Die Teile sind für das neue Wasserkraftwerk am Neckar bestimmt. Der große Kran, der die Turbinen durch die Luft in die wartenden Betonbau transportiert, steht bereit und Projektleiterin Claudia Helm beobachtet auf der Baustelle neben der Wehranlage konzentriert den Fortgang der Arbeiten. Im Frühjahr 2011 soll das EnBW-Kraftwerk den Betrieb aufnehmen und bis zu 7,1 Gigawatt Strom im Jahr erzeugen.

Von Gesa von Leesen

Am Freitagnachmittag wurde die Turbine in St. Pölten in Niederösterreich aufgeladen. Dort sitzt die Firma Kössler, eine Tochter des Voith-Konzerns, die die Turbinen gebaut hat. Montagmorgen konnte Peter Domokos mit seiner Fracht starten. „Höchstens 80 Stundenkilometer können wir fahren“, erzählt der Ungar. „Aber es hat alles gut geklappt, am Nachmittag waren wir hier.“ Sein Job ist nun erstmal beendet, Kössler-Mitarbeiter eilen herbei, um die erste der zwei angelieferten Turbinen an den Ketten des Krans zu befestigen. Nach einigem Hin und Her erhebt sich die Getrieberohrturbine in die Luft, schwenkt über die Baustelle und senkt sich langsam in Richtung der Turbinenöffnung. Helfende Hände dirigieren das Teil in die Tiefe, kurz bevor es aufsetzt, greift einer der Kössler-Männer zur Flex: Die Standstützen müssen ab. In wenigen funkensprühenden Minuten ist die Aufgabe erledigt, die Turbine kann aufsitzen.
Im Herbst soll der Bau fertig sein, erklärt EnBW-Sprecherin Maria Dehmer, nach einem Probebetrieb will man das 5,2 Millionen Euro teure Wasserkraftwerk im Frühjahr kommenden Jahres ans Netz nehmen. Der dort erzeugte Strom reiche für etwa 2000 Haushalte. Bislang werden 150.000 Haushalte mit Energie aus dem Neckar versorgt. So erhöht die EnBW nach und nach den Anteil von regenerierbarer Energie in ihrem Angebot, an Atomkraft hält man weiterhin fest.
Wenn das Kraftwerk auf den Hechtkopf, der Landzunge zwischen Landratsamt und Neckarfreibad, endlich steht, werden sich auch Fahrradfahrer und Fußgänger freuen. „wie früher wird der Weg wieder direkt am Neckar entlang gehen“, erklärt Bauingenieurin Helm. Dort, wo das Wasser aus dem Kraftwerk wieder in den Neckar geleitet wird, werde man die Schwergewichtsmauer am Ufer einschneiden und eine Brücke bauen. „Das Umfeld begrünen wir, es werden Bänke aufgestellt und von einer Art Atrium aus kann man in das Kraftwerk hineinschauen.“ Außer Schaltschränken wird es allerdings nicht viel zu sehen geben, „denn die Turbinen sind nun mal unter Wasser“. An die Fische ist auch gedacht. Die werden die Hürde über eine extra gebaute Rinne, einen Fischabstieg am Rand des Kraftwerkes nehmen können.
Um elf Uhr sitzt die erste Turbine in ihrer Fassung. „Das war sehr schnell und sehr genau“, sagt Sprecherin Dehmer zufrieden. Die zweite Turbine soll am Nachmittag eingesetzt werden. Dann kommen die Verschalungen, das Laufrad muss noch eingefügt werden. Dehmer: „Jetzt geht es zügig in die Endphase.“ Voraussichtlich End Juli kommt der Generator und dann ist das Kraftwerk schon fast fertig.

Ein gesundes Hobby

Eßlinger Zeitung vom 8. Juni 2010

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Wenn Jochem Nietzold seine Pflanzen besucht hat, überträgt er die gesammelten Beobachtungen in Ordner. Um die 400.000 Daten lagern inzwischen in seiner Wohnung.


Ostfildern-Ruit: Jochem Nietzold sammelt seit einem halben Jahrhundert Pflanzendaten

„Wenn Sie feststellen, wann bestimmte Pflanzen anfangen zu blühen, lässt sich – im Vergleich mit weiteren Daten – zum Beispiel schlussfolgern, wie sich die Vegetationsphase weiter entwickelt. Das ist unter anderem für Landwirte interessant.“ Jochem Nietzold sucht Woche für Woche bestimmte Bäume, Felder und Einzelpflanzen in Ruit auf und notiert deren Wachstumsphase. Das macht der 82-Jährige seit 54 Jahren, 44 davon für den Deutschen Wetterdienst (DWD).

Von Gesa von Leesen

Ungefähr drei Mal die Woche ist der pensionierte Lehrer unterwegs, um seine Pflanzen abzuklappern. Blattaustrieb, Blüte, Fruchtreife, Laubverfärbung, Blattfall sind nur einige Kriterien, die festgehalten werden müssen. 47 Arten stehen unter der Beobachtung für den DWD, Phänologie nennt sich diese Wissenschaft der jahreszeitlich bedingten Erscheinungsformen bei Pflanzen. Einmal im Monat schickt Nietzold die Daten an den DWD. Dazu kommen Sofortmeldungen für Allergiker. Zusätzlich erfasst der Biologe die Vegetationsstände von weiteren 867 verschiedenen Kräutern, Sträuchern und Bäumen – auch das schon seit Jahrzehnten. Um die 400.000 Daten haben sich so in zahlreichen Ordnern angesammelt. Akribisch stellt der Naturwissenschaftler daraus Reihen auf, vergleicht, berechnet Durchschnittswerte, stellt Verbindungen und Abweichungen her. Er ermittelt die Phasen des Wachstums und die von der Blüte bis zur Fruchtreife, setzt die Phasen zueinander in Verhältnis. „Wenn ich die Daten mittle, komme ich auf den Goldenen Schnitt“, berichtet Nietzold begeistert. „Ich nähere mich der Goetheschen Urpflanze!“
Dem Laien bleibt also manches unverständlich. Dass es sinnvoll ist, anhand des Pflanzenwachstums die weitere Entwicklung in der Natur zu ermitteln, leuchtet aber ein. Funktionieren kann das jedoch nur, wenn die Daten kontinuierlich gesammelt und ausgewertet werden. Sonst sind Abweichungen und Veränderungen nicht erkennbar. Neben der Landwirtschaft, die unmittelbar von den phänologischen Beobachtungen profitieren kann, sind Erkenntnisse auch für andere Bereiche denkbar. Nietzold: „Wenn Sie zum Beispiel einen Film in der Lüneburger Heide drehen wollen, möchten Sie ja wissen, wann die blüht. Dann rufen Sie in Offenbach beim DWD an. Die haben die Mittelwerte und die Jahreswerte und können daraus ableiten: Ab 25. Juli blüht die Heide.“
1955 verließ der Thüringer mit seiner Frau die DDR. Es dauerte einige Jahre bis die beiden Lehrer wieder in ihrem Beruf arbeiten konnten. Endlich klappte es für ihn mit einer Lehreranstellung in der Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart. Weil dort aber ein eklatanter Turnlehrermangel herrschte, wurde Nietzold vor allem Turnlehrer. „Mein Vater war thüringischer Zehnkampfmeister gewesen, turnen konnte ich also.“ Doch auch in Deutsch, Stenografie, Geografie und Wetterkunde stand Nietzold 35 Jahre lang vor Schulklassen. „Aber eben wenig naturwissenschaftliche Fächer.“ Diesen Mangel glich (und gleicht) der fit wirkende Rentner seit einem halben Jahrhundert durch die phänologischen Beobachtungen aus. Auch wenn er mit dem Datensammeln wahrscheinlich nie ganz aufhören können wird – die Pflicht, für den DWD loszuziehen, wird ihm langsam zu viel. Er und der Deutsche Wetterdienst würden sich freuen, wenn sich ein Nachfolger fände. Nietzold hat notier, welche Voraussetzungen der oder die mitbringen sollte: Freude an Naturbeobachtungen, Gute Kenntnisse über Pflanzen und er oder sie muss zuverlässig und gewissenhaft und sesshaft sein. Als Entschädigung für die Beobachtung und Meldung der Erkenntnisse zahlt der DWD 230 Euro im Jahr. Gut geeignet seien erfahrungsgemäß Landwirte, Gärtner, Lehrer, Mitglieder von naturkundlichen Vereinen, weiß Ekko Bruns, der beim DWD für das 1300 ehrenamtliche Mitarbeiter umfassende phänologische Beobachternetz zuständig ist. Gerade für Ruit wieder jemanden zu finden, liegt ihm sehr am Herzen: „Kein anderer hat so viele Daten erhoben wie Herr Nietzold und kein anderer lebt die Phänologie so wie er. Diese Datenreihen möchten wir sehr gerne fortgeführt wissen.“ Und Jochem Nietzold selbst ist gerne bereit, seinen Nachfolger einzuarbeiten. Vielleicht schafft auch der es dann irgendwann, wie Nietzold die Frage „Wie wird dieser Sommer?“ zu beantworten. Nietzold verweist auf einen Zwölf-Jahres-Rhythmus´, in dem 220 Jahre statistisches Material ausgewertet sind: „Danach wird der Sommer wahrscheinlich sehr wechselhaft mit extremen Temperaturschwankungen und Niederschlägen. Und dann folgt ein milder Winter.“


Kontakt:
Wer interessiert ist, in Ruit phänologische Daten für den Deutschen Wetterdienst zu sammeln, möge sich dort wenden an: Ekko Bruns, Tel. 069/80 62 20 22, oder Email: ekko.bruns@dwd.de

http://www.dwd.de

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